François Nicolas
1947 geboren lernt
François Nicolas schon als Kind Klavier und dann Orgel (mit A.Alain) spielen.
Nach seinem wissenschaftlichen Studium (Ecole Polytechnique) ist er anfänglich
im Bereich der Jazzmusik tätig und widmet sich später der zeitgenössischen
Musik. Zur Vervollkommnung seiner musikalischen Bildung studiert er Klavier mit
Roque-Alsina, musikalische Komposition am CNSMP bei M. Philippot, begegnet
M. Kagel, L. Berio (Acanthes 1981 und 1983) und B. Ferneyhough
(Darmstadt, 1982 und 1984) und nimmt an dem für Komponisten bestimmten Kursus
über musikalische Informatik am Ircam teil.
Als Assistent im CNSMP
wird er zum Mitbegründer der musikalischen Zeitschrift, Entretemps
(1986) ; seit 1988 sitzt er im editorialen Ausschuss der « Revue de
musicologie » und wirkt regelmäßig als eingeladener Produzent bei
France-Musique.
Seit den Neunziger Jahren
arbeitet François Nicolas. im Ircam als Komponist und Forscher (Herstellung der
Software « Modalys » – Synthese anhand physischer Modellen – , dann
Verfertigung von « Timée » (einer aus einer Vielfalt von
Lautsprechern bestehenden Quelle). Im Ircam ist er für die « Samedis
d’entretemps » (Treffen um musikalische Bücher) sowie für verschiedene
Seminare (Entretemps) verantwortlich.
Seit 2003 ist er in der
ENS (Ecole Normale Supérieure) als assoziierter Professor und Forscher tätig.
Dort hat er er die verschiedenen Aktivitäten von mamuphi (Mathematik, Musik und
Philosophie) koordiniert.
F. Nicolas’
musikalische Werke sind bei Jobert erschienen. Sie wurden von verschiedenen
Ensembles (EIC, L’Itinéraire…), wie von zahlreichen Interpreten (….)
aufgeführt. Zur Zeit arbeitet er zum fünfigsten Jubiläum von Mai 68 an einer
viersprachige (Französich, Deutsch, Russisch und Arabisch) Tetralogie
(Symphonie, Kantate, Madrigal und Oper) mit dem Titel « Égalité
’68 » .
F. Nicolas ist nicht
nur Komponist und Musiker, er widmet sich auch den theoretischen Überlegungen
über die Musik. Nach vielen Büchern (über Schoenberg, das Konzert, Boulez…) und
Artikeln, wird er demnächst sein umfangreiches Buch, Le monde-Musique et son
écoute à l’œuvre veröffentlichen.
*
Florence Millet spielt François Nicolas
François Nicolas’ Musik
zuzuhören heißt die Etappen seines musikalischen Denkens durch sein ganzes Werk
verfolgen. Im Laufe dieses Zuhörens begegnet man anderen Komponisten (es
tauchen Mozart, Schumann, Scriabine, Schoenberg und Berg unter anderen auf), Komponisten,
die Nicolas nicht einfach zitiert, sondern die er als Partner in einem
ununterbrochenen, schöpferischen Tausch in sein eigenes Schaffen einbaut. Das
Paradoxon ist aber, dass aus dieser Gegenüberstellung ohne Ende ein
musikalisches Werk entsteht, das als solches gespielt und gehört werden kann,
als Ergebnis « eines finiten Schnitts durch infinite Qualen », nach
Nicolas’ eigenen Worten. Die so entstandene Szene ist zugleich die des
Komponisten und die der Musik selbst, in dem Maße wie diese in einem solchen
Rahmen ihre Grenzen und Fluchtlinien entfalten kann.
Diese CD ermöglicht uns
einen diagonalen Blick auf dieses Werk zu werfen, indem sie uns vier von diesen
« finiten Schnitten» bietet. Zwei Stücke, Toccata (2002) und Sonate (2003) sind bzw. parallelen
rhythmischen und harmonischen Erforschungen gewidmet, während zwei frühere
Werke, Des infinis subtils (1995) und ein Trio Transfiguration (1997) mittels
Transkription und Bearbeitung eine isolierte Etappe in Nicolas’ musikalischem
Denken vorführen.
TOCCATA
Die hüpfenden Rythmen,
die das Werk eröffnen, lassen alle zwölf Noten der chromatischen Tonleiter im
rhythmischen Raum erklingen, wie Münzen, die aus einem Loch in der Tasche des
Pianisten fallen würden. Scheinbar ganz vom Zufall abhängig löst dieser Fall
ein kreuz und quer hektisches Sprinten des Pianisten durch einen von einem
unerbittlichen viertaktigen Maß regierten Raum auf. Die Tonordnung mag wohl der
Oper Wozzeck entliehen sein, aber die rhythmische Organisation beruht auf einer Folge
von Dauern, die in einem immerhin unbeweglichen Metrum eine maximale Auswahl an
zeitlichen Intervallen und Impulsen hervorrufen. Dank der langen Tiefnoten, die
das schrille Klingeln des Münzenfalls begleiten, ist diese rhythmische
Verteilung leicht zu erkennen..
Gelegentlich wird der
Lauf des Sprinters durch Choräle unterbrochen. Es sind Echos eines längeren
Orgelwerks (Erkennung [2000]), in dem die Toccata wurzelt. Diese Unterbrechungen
dauern aber nicht lange und bald nimmt das Werk in einem perpetuum mobile seinen Lauf wieder auf.
Schließlich entfernt sich die Flut dieses perpetuum mobile, und die Ebbe
hinterlässt einige kärgliche Spuren, die an den verschwundenen Sprinter
erinnern.
DES INFINIS SUBTILS
Gleich riesigen
Doppeltüren, deren Auf- und Zumachen einen geräumigen Saal widerhallen lassen,
beginnt das Werk mit einem durch die ganze Tastatur Durchlaufen der beiden
Hände. Die Töne funkeln in dem so aufgeweckten leeren Raum. Diese Meditation
über Resonanz konstituiert den ersten der 31 Momente, die der Erforschung
verschiedener Typen von Gebärden, träumerischen , flüssigen, tanzenden,
oder « en hocquet » Gebärden
gewidmet sind. So verbindet diese (unmögliche) Bearbeitung eines früheren Werkes
für zwei Klaviere (Pourtant si proche [1994]) mannigfaltige Gebärden,
die alle auf einer spezifischen Wechselwirkung zwischen zwei Strömungen
beruhen, die aus den zwei Händen des Pianisten entspringen.
Von Zeit zu Zeit kreuzen
sich die Rhythmen dieser beiden Stimmen, an das « crux » erinnernd,
das Ralph Kirkpatrick in den Sonaten von Scarlatti zu erkennen wusste. Eine
solche kreuzartige Entwicklung (die hier die Dauern, dagegen bei Scarlatti die
Höhen der Töne betrifft) bewirkt ein Spiel von Beschleunigung und Verlangsamung
der beiden auf die zwei Hände verteilten Stimmen.. Es geht hier um das
Erschaffen eines Ganzen, in dem die verschiedenen Teile verschmelzen, sowie ein
Wald nicht aus der Zusammenzählung der einzelnen Bäume besteht, oder sowie ein
neuer kollektiver Körper mehr repräsentiert als die Summe der Organe und Glieder.
TRIO
« TRANSFIGURATION »
Dieses Trio hat als
Ansatzpunkt das von Schumann beliebte Bild « eines
Spielers voller Feuer am Klavier, der von zwei verständigen Freunden einfühlsam
begleitet wird ». In diesem Werk spiegelt das Klavier die gewaltsame Resonanz
des Schumannschen Schreiben für das Klavier, während die Mozartsche Klarinette
mit ihren drei scharf getrennten Registern einerseits, und andererseits
Schoenbergs große nomadische Geige, die am Ende des zweiten Aktes von Moses
und Aron ertönt, die Rollen der zwei
Freunde übernehmen.
Wie es in Des
infinis subtils anhand der verschiedenen Stimmen desselben Instrumentes
geschah, gilt es hier, die drei Instrumente zu einem neuen Ganzen zu
verschmelzen. Diese Transfiguration kommt weder durch das Bild einer Umarmung
der drei Freunde um das Klavier, noch durch eine polyphonische Komposition der
drei Instrumente zustande, sondern dadurch dass diese drei abenteuerlichen
Kameraden die einzelnen Gebärden (insbesondere das « crux ») durchwandern,
wie es schon in Des infinis subtils der Fall war. Es
entsteht dabei etwas wie ein neues « Wald-ensemble ».
SONATE
Wenn Resonanz eines der
Hauptanliegen des Trios Transfiguration und des Klavierstückes Des
infinis subtils war, so wird sie jetzt in der Sonate unter das Mikroskop gestellt.
Diesmal beruft sich Nicolas’ Tonwelt auf die achte Klaviersonate von Scriabine,
in der Absicht die Wechselwirkungen zwischen Resonanz un Harmonie zu
untersuchen.
Zu diesem Zweck entfaltet
der Komponist einen weiten « Regenbogen-Akkord »,
der die gesamten chromatischen Höhen und Intervalle (die Höhen spielen hier die
gleiche Rolle wie die Dauern in der Toccata) zusammenfügt, eine originale
Weise, Scriabines « mystischen Akkord »
zu umhüllen, (genau wie die Akkorde der zweiten Szene des ersten Aktes von Wozzeck in der Toccata umhüllt wurden). Die
ersten zwei Drittel des Werkes sezieren und erweitern die Hauptmomente der
Sonate, während sich das letzte Drittel auf die Wechselwirkung von Harmonie und
Resonanz konzentriert, und das im Laufe einer Träumerei, deren Verwandtschaft
mit Jazzmusik jedem Zuhörer auffallen wird.
Matthew Lorenzon
(trad. Isabelle Vodoz)